Kommentar: Shakespeare und die 12b – Narren, Weise und andere |
Es ist seltsam: Während die Schule darüber nachdenkt – natürlich denkt nicht die Schule, sondern die Schüler, die Lehrer, die Eltern – wie der Schülerschwund in der Oberstufe zu bremsen wäre, wie man stoppen kann, was sich da seit einiger Zeit vollzieht, dass nämlich die Oberstufenklassen schmerzhaft schrumpfen; während lange Sitzungen und Workshops zu diesem Thema abgehalten werden, Pläne geschmiedet, Umgestaltungen angedacht werden, währenddessen fanden und finden Ereignisse an unserer Schule statt, die an künstlerischer Reife und Qualität wohl in weitem Umkreis ihresgleichen suchen. Es sei an die Konzerte im Februar und im April erinnert. Es ist fast ein Rätsel, wie das zusammengeht, oder vielmehr: Es ist eine traurige Gewissheit, dass viele Schüler, viele Elternhäuser diesem kreativen Potenzial, diesem Boom an Lebensfreude, Schöpfertum und Gemeinschaftssinn den Rücken kehren, um die in dieser spätkapitalistischen Gesellschaft einzig gültige Währung reichlich zu erwerben: Abschlüsse, Abschlüsse, Abschlüsse.
Die ja auch unsere Schule zu bieten hat, aber eben auf einem etwas steinigeren, gefahrvolleren, nicht rundum abgesicherten und mit Geländern versehenen Weg. Dass er gangbar ist, beweisen auch in diesem Schuljahr wieder tüchtige Schüler, gute Ergebnisse, zufriedene Lehrer.
Aber was eben auch noch zu sehen ist: Was die Kunst, die Musik, das Theaterspielen, der Landbau, das Handwerk vermögen, was diese Künste (nach Goethe freie und strenge Künste genannt) in den jungen Leuten freizusetzen vermögen an Fähigkeiten, Sozialkompetenz, Konfliktfähigkeit, Denkkraft, Geschicklichkeit, Selbstbewusstsein, Lebensfreude, Wahrheitsliebe und, ja, an Schönheit, das ist zu bewundern, darauf darf man auch stolz sein. Aus einem solchen Projekt wie jüngst das Zwölftklass-Theaterprojekt „As you like it“ (was am 9. und 10. Juni 2023 in der großen Aula zu erleben war) kommen die Schüler anders heraus, als sie hineingegangen sind, in dem großen Gefühl, dass es sich lohnt zu leben und dass sich gemeinsam Sinnvolles, Erhebendes und Einzigartiges schaffen lässt. Die zwölfte Klasse ist – wie das einmal eine Schülerin ausgedrückt hat – das „Finale“ der Waldorfschulzeit. Klimax und Krönung einer Entfaltung durch zwölf volle Jahre hindurch. Ende der Vorrede. |
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Ein echter Shakespeare. Nicht im Buchstabensinn, es wird eine moderne Textfassung gespielt (von Carsten Golbeck), der Umfang ist wohltuend geschrumpft auf etwa zweieinhalb Stunden Spielzeit, aber scheinbar ist keine Pointe ausgelassen, der Text ein Extrakt an Komik, Tiefsinn, Blöd- und Unsinn, Sprachwitz, Gesellschaftskritik, Wortverdrehungsakrobatik und echter Weisheit, das alles in modernem Tempo, also vorwiegend schnell. Gelegentlich aber auch verblüffend langsam, den Darstellern der beiden Schäfer Corinn und Silvius (Lewin Kirsch und Benjamin Richter), des etwas tumben Preisboxers Charles (Thorben Feld) und der trauten Traute, des Mädchens aus dem Volk, gelang es, ihre natürliche Intelligenz erfolgreich zu verbergen und ihren Sprechduktus dem rollengemäß langsamen Denken anzupassen, sie sorgten damit in der Inszenierung wohltuend für Atem. Silvius, der verliebte Schäfer, dazu für ein in Hamburg seltenes Lokalkolorit: in schäänster Hingoabä und breitestem Sächsisch brachte er seine Liebeswerbung vor. Treuherzig, ergreifend und zugleich irre komisch.
So sind einige besondere Ressourcen der jungen Leute in die Inszenierung eingeflossen, in einer sowohl freilassenden wie auch akribisch-intensiven Probenarbeit quasi “geschürft”, einige Beispiele seien hier genannt: das phänomenale Geigenspiel von Fukiko Krawehl, das, mit den Fähigkeiten anderer ambitionierter Instrumentalisten aus der Klasse kombiniert, dem musikalischen Leiter, “DJörn” (Jörn Rüter) die Möglichkeit gab, sich mit vollen Händen nicht nur aus der Musikliteratur von Jahrhunderten, vom Frühbarock bis Gershwin, zu bedienen, ebenso Musical, Schlager und Klassiker des Jazz wie “I’m in the mood for love” zu zitieren, sondern auch noch eigene Kompositionen den Ausführenden quasi “auf den Leib zu schneidern”. Man sah Herrn Rüter arbeiten, arbeiten, arbeiten, frohgemut, oft mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht, morgens, mittags, abends, meistens im Lehrerzimmer vor seinem Laptop. Herausgekommen ist ein “psychedelisch tanzbar musikalischer Traum” (wie im von den Schülern beeindruckend gestalteten Programmheft zu lesen) mit Instrumentalstücken, wunderbaren Gesangssoli und herrlich vorgetragenen Duetten und Chorstücken. Die Instrumentalisten waren nur von ferne zu sehen, versteckt im Bühnenbild: Ein Pilz wippte mit dem Kopf, eine Posaune blitzte im Hintergrund auf und ein Geigenbogen tanzte. Ganz solide und historisch fast getreu ging es los, mit dem Eingangsstück aus “ The fairy Queen” von Purcell, aber gegen Ende des Stückes mischten sich Jazzklänge hinein, schräge Töne, gar ein langgezogenes Posaunen-Glissando, man war verunsichert, gespannt, amüsiert…
Die ironische Brechung, passend zum Sujet, war offenbar Programm, mit jugendlichem Mut und Unbekümmertheit wurde alles aufs Korn genommen, was durch den Text oder den Subtext ins Visier geriet. Zunächst Geschlechterklischees (unterstützt durch eine Kostümierung, die alles vermischte: historische Zitate, Narrenkleider, Röcke für Männer, merkwürdige Haremshosen, Uniformelemente, leicht verfremdete Eurythmieschleier). Dann auch die Naturseligkeit, der Veganismus und die Baumkletterei (z.B. wurde im Text die Waldesstille gelobt, worauf ein unglaublicher Lärm losbrach, Spechte hämmerten im Akkord zu einer Kakophonie aus Vogelstimmen). Der beißende Spott für verliebte Amateur-Dichter – der ganze Wald war mit Orlandos Versen dekoriert – musste nicht extra erfunden werden, der steht im Text und wurde leichtfüßig inszeniert.
Die in mancher Inszenierung störenden mächtigen Rotklinker-Säulen des Bühnenraumes wurden in diesem Bühnenbild (das meistens den Wald von Arden vorstellte) zu gewaltigen Stämmen steinerner Eichen, an denen sich Ranke und Rebe emporschlängelten, einmal aber auch Amiens, ein im Original männliches, hier aber ausnahmsweise einmal eindeutig weibliches Wesen, in einem atemberaubend artistischen Baumkletterertrip (im Unterschied zu wirklichen Eichen boten die Säulen des Bühnenraums nämlich nur winzige Vorsprünge zum Festhalten). Amiens (Anna Luisa Garbers) hatte nicht viel zu sagen, aber sie trug Entscheidendes zum besonderen Charme der Aufführung bei: sie trudelte, schwebte, wirbelte umher, streichelte den erkletterten „Baum“, trällerte durch den Wald, voll von Jugendüberschwang und Naturromantik, sie nervte Forster (Thorben Feld), ein bodenständigeres Mitglied der in den Wald verbannten Hofgesellschaft des Herzog George damit. Großartig verspielt war das, schwerelos, abgehoben, traumtänzerisch. Bravo.
Das Bühnenbild, minimalistisch, möbellos, bestand aus einem nach hinten ansteigenden Halbrund, einer Art Hufeisenform (zum Publikum hin geöffnet), auf und vor der gespielt wurde; die Kämpfe des Preisboxers Charles waren als Schattenspiel zu sehen, der siegreiche Kampf von Orlando (in der stringent sprachlich und gestisch durchgearbeiteten Hauptrolle: Josephine Hübner) in Zeitlupe arrangiert. Der Wald hatte durch Farbeffekte der Beleuchtung oft Sommernachtstraum-Zauber, entmaterialisierte sich fast, die riesigen Pilze und die über und über berankten “Flanken” der schrägen Spielebene lösten sich in Farbträume auf und kehrten in die Realität zurück, je nach Szene. Wenn Rosalinde und Celia erschienen, die beiden Cousinen (Almut Scheffler und Lucia Peiler), waren die Zuschauer gebannt von ihren Exaltationen, Liebestiraden, Bedenken, Ohnmachten und Fluchtplänen, allerdings gab es jemanden, der das Potenzial hatte, ihnen die Show zu stehlen, das war Touchstone, der Hofnarr (Magnus Brandt), der omnipräsent war, immer und überall auftauchte und mit seinem Spott niemanden verschonte, der in unlauterer Absicht die naive Traute (sehr überzeugend: Magdalena Röhm) verfolgte, leicht obs(ch)zöne Anspielungen ausstreute und sich am Ende lieber für Jaques (Fridtjof Syrat) entschied, den Berufsmelancholiker und Hilfsnarren, eine wohl nicht ganz Shakespeare zuzuordnende Paarbildung. Touchstone war, ähnlich wie Amiens, überall, er kommentierte pantomimisch große Teile der Handlung, auch wenn er gerade nichts zu sagen hatte. Es war für das Publikum fast unmöglich, alle Handlungen und stumme “Kommentare” gleichzeitig zu verfolgen. Leicht verfremdet und sehr modern wirkte auch Jaques’ großer Monolog in der vierten Szene, kulminierend in der Erkenntnis: „Man muss nicht wissen, was die Welt zusammenhält, wenn sie einem erst selbst gehört.“ Ist das eine Kritik an der radikalen Agenda des Neoliberalismus oder original Goethe oder Shakespeare? Man staunt, man wundert sich: was für eine Aktualität, was für ein Text, was für eine intelligente Regie (Sonia von Pilsach und Jan Hübner mit ihren hochmotivierten Assistenten Emilie Girth – die auch Herzog Oliver spielte – und Fukiko Krawehl – die auch den despotischen Herzog Frederick verkörperte). Bei aller Komik und allem Witz: hier geht es um etwas, um etwas Wichtiges, um Gesellschaftskritik. Die man ja von der Generation sich wünscht, in deren Hand die Welt bald sein wird.
Oberflächlich betrachtet ist es ein Schäferroman, eine Verwechslungs- und Verbannungskomödie, intelligent und spritzig. Wenn man genauer hinschaut, geht es um mehr: um menschliche Abgründe, gesellschaftliche Verwerfungen, um Verstoßung, Lüge, Gewalt, Rivalität und um die Liebe. Erstaunlich, in welche Dimensionen der Text und die Inszenierung da vorgestoßen sind und welche Aktualität dadurch entstanden ist. Der schon erwähnte, in den Wald verbannte Herzog George wurde von Tariqe Schäfer überzeugend dargestellt (die auch noch, ebenso treffend, das heitere, verführerische “Waldkind” spielte), die zickige und endlich doch von der Liebe ergriffene Schäferin Phöbe eindrücklich von Akulina Bartsch. Als Edelleute im Gefolge des in den Wald verbannten Herzogs Georg waren neben schon erwähnten Spielern Pia Puschke und Rafaela Fernandez zu erleben. Die singende, tanzende, lebende Pyramiden bauende Schafherde, die sich sogar über die Geländer und Treppen des Zuschauerraumes ausbreitete, wurde zum großen Gaudium des Publikums von den beiden Regisseuren ergänzt. Leider ist das Oberschaf Sonia bei einer Probe verunglückt, es hat wohl den Wunsch “Hals- und Beinbruch” zu ernst genommen. Gute Genesung!
Insgesamt eine fulminante Arbeit und eine große Leistung, beide Aufführungen waren nahezu ausverkauft, das Publikum begeistert und tief beeindruckt. Standing ovations. Wir werden lange daran denken. Dank an alle Beteiligten, danke, liebe 12 b.
Christiane Gerber- El Mekraoui |
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