Bulgakow war ein verzweifelter Dichter mit Veröffentlichungs- und Ausreiseverbot, wahrscheinlich nur knapp dem Gulag entkommen, der sich in den Roman „rettet“, indem er anhand seiner Figuren teils satirisch, in grotesk-phantastischer Überhöhung und teils in ernster, poetisch reicher Sprache die tiefsten Themen zur Sprache bringt: die Liebe, das Böse, die Schuld, das Christentum, die Angst, den Tod, die Feigheit, den Opportunismus, die Gier. Immer wieder finden sich im Roman wie in der Bühnenfassung Reverenzen, tiefe Verbeugungen vor und zahlreiche Bezüge zu Goethes „Faust“. Zum Beispiel im vorangestellten Motto („… ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“), das in den Aufführungen auf großen Bannern von der Saaldecke wehte. Zum Beispiel in der Figur der Margarita (russisch für Margarethe = Gretchen), in der Inszenierung zum Niederknien schön und ergreifend gespielt und gesungen von Anastasia Diel, als die tief liebende, mutige, alle Hindernisse überwindende Frau. Zum Beispiel in der Figur des Satans alias Professor Voland (der Name ist eine direkte Entlehnung aus dem „Faust“), die mit Anneke Bunk eine bemerkenswerte Verkörperung fand. Sie sprach mit sonorer Arroganz, rollendem R, mit funkelnder Ironie und mephistophelischer Klugheit.
Zutiefst menschlich, mit berührender emotionaler Authentizität, wurde der Lyriker Iwan Besdomny (= der Hauslose, der Unbehauste) dargestellt von Janne Kirsch, ihr gehörte der große Schlussmonolog. Auch einen bzw. mehrere Wagner-Figuren gab es im Stück, Professor Strawinsky (beeindruckend: Nikolas Hauptmann) mit seinem Schwarm von unterwürfigen Ärzten und Pflegern, die in russischen kleinen Sprachfetzen im Chor das Geschehen im Irrenhaus kommentierten. Diese Szene war eine köstliche Karikatur auf die Wissenschaft, die es „so herrlich weit gebracht“ hat und so herrlich überzeugt ist von sich selbst. Auch eine überdimensionierte Spritze kam zum Einsatz. Und schließlich gehört zu den Faust-Bezügen noch die Teufels-Entourage, bestehend aus der raffinierten Hexe Hella (Joana Eggers), dem fetten schwarzen Kater Behemot (Paul Zebrowski) und dem Kerl im karierten Anzug namens Fagott (Mattes Krull). Die drei waren über weite Strecken präsent, spielten mit einer solch launig-abgründigen Komik, gestischem und artistischem Einsatz, dass selbst die Ermordung des Literaturkritikers Latunski (auch in anderen Rollen noch zu erleben: Anna Petrasek) auf dem Ball Satans fast zum Slapstick geriet.
Ein tragendes Element der Inszenierung war die Musik. Sonja Zimowski ließ gleich zu Anfang, als der Meister (überzeugend: Henning Preuß) mit verzweifelter Entschlossenheit auf seiner Schreibmaschine herumhackte, über die ganze Bühne verteilt, gespielt von allen Schülern mit ihren jeweiligen Instrumenten, einen anschwellenden Cluster ertönen, der in einem gewaltigen Gongschlag endete. Und es ging weiter Schlag auf Schlag. Kaum war dem Literaturprofessor Berlioz (Hyeonseok Sung) von der Straßenbahn der Kopf abgetrennt worden, musste sein Darsteller flink an die Geige hechten und im Restaurant – mit Kopf – gehobene Unterhaltungsmusik spielen. Hyeonseok hatte sich offenbar auf die Kopf-ab-Rollen abonniert, er legte später als Varietédirektor Bengalski noch einen atemberaubenden Slapstick hin, unbeschreiblich. Ganz locker spielte er zum Hexenflug in der Satansnacht den Vivace-Teil aus den Zigeunerweisen von Sarasate, und er geigte hochvirtuos. Erstaunlich! Strawinsky-, Schostakowitsch-, Tschaikowski-Zitate, russischer Rock erklangen, auch der Teufel musste gelegentlich geigen, die dumpfe Riesentrommel schlagen oder Sopran singen, Professor Strawinsky die Klarinette blasen und die Hexe Hella Bratsche spielen (es herrschte Personalmangel!), und als Kontrapunkt zu der ganzen Teufelei und Raffinesse sangen die Schüler zu den Pilatus-Szenen (die zu des Meisters Roman gehörten, um den sich das Stück ja drehte) als Kurrende in weißen Umhängen, auf der oberen Spielebene (Jerusalem) entlangwandelnd, voller Andacht das „Lacrimosa“ aus dem Mozartschen Requiem. Vierstimmig, a capella. Wunderschön, ergreifend.
Pilatus (Christian Fernandez), Jesus (Marita Stirnal), Leibwächter Rattenschlächter (Leonard Neumann), Judas (Janne Kirsch), Levi Matthäus (Miriam Otten) und die Dame Nisa (Lara Kamph) erzählten die Jesus-und Pilatus-Geschichte in des Meisters (Bulgakows) Roman-Version. Etwas anders als im Evangelium. Pilatus erschien, auf blutrotem Sessel sitzend, in antikem weißem Gewand (Kostüme: Felicitas Lewrentz mit Schülern) im Bühnenhintergrund auf der höchsten der drei Spielebenen. Wie selten fügte sich in dieses Bühnenbild die Architektur der mächtigen Rotklinkersäulen des Saales, rahmte die Szene als Portal gelungen ein, und weiße schmale Vorhänge verstärkten als kannelierte römische Marmorsäulen diese Wirkung. Die zahlreichen überlangen schmalen Vorhänge wurden im Stück heftig bespielt, hin- und hergezogen, zusammengeknüllt, verknotet und wieder ausgebreitet, sie öffneten und verschlossen Räume, bildeten Gassen, wurden zu Betten, Schaukeln und Hexenbesen, zu Vertikaltüchern, an denen die Hexe Hella (Joana Eggers) und der Kater Behemot (Paul Zebrowski) atemberaubende Artistik wie nebenbei präsentierten, während sie ironische Kommentare ins Geschehen einwarfen. Diese wandelbaren schneeweißen Tücher bildeten einen starken Kontrast zum statischen schwarzen Bühnenbild (gebaut von den Schülern und Tom Schaarschmidt), das ganz schlicht und etwas düster wirkte, aber viel zu bieten hatte: drei Spielebenen, eine schräge Rampe, einen Graben, eine falltürartige Versenkung und sogar Platz für die Musiker. In der Ballnacht beim Satan (man denkt an die Walpurgisnacht im „Faust“, und man denkt richtig) wurden die Tücher zu Mitakteuren, man sah sie wie Hexen im Sturm fliegen (dank farbiger Lichteffekte, die Tom Schaarschmidt nicht nur an dieser Stelle sehr gelungen herbeizauberte). Der dampfende teuflische Sud rührte sich mit einer Riesenausgabe eines geschnitzten Waldorf-Kochlöffels von allein.
Tolle Regie-Ideen also. Jan Hübner war dafür zuständig, und er hatte starke Mitstreiter unter den Schülern. Sein Stil, so der Eindruck: Auf Augenhöhe mit den Akteuren, immer gut gelaunt, frisch, jungenhaft, flink, scheint seine Stärke das Anregen, das Freisetzen von Kreativität der Beteiligten, das Ermöglichen zu sein. Ihm zur Seite Sonja Zimowski mit ihren musikalischen Ideen. Mit nur sechzehn Mitspielern ein solches Stück zu schaffen, ein Stück voller Massenszenen, voller Phantastik, an wechselnden Orten spielend (Moskau, Jerusalem, Varieté, Irrenhaus, Restaurant, Wohnung Satans) in nur fünf Wochen Probenzeit, von denen nur drei frei von anderen Aktivitäten waren, forderte von allen, von jedem Einzelnen, höchsten Einsatz. Im schönen, informativen und lesenswerten Programmheft findet sich neben der Andeutung von „zähen technischen Durchläufen“ und „fliegenden Kostümwechseln“ denn auch der folgende Satz (von Mattes Krull): „Gemeinsam arbeiteten wir bis spät in die Nacht, es war uns ein Fest.“ Amen, möchte man hinzufügen. Und vielleicht noch: Das geht nur in der 12.Klasse, dazu muss man erwachsen sein.
Viele technische Probleme harrten ihrer Lösung, bis zuletzt wurde getüftelt und gebaut, z.B. eine herrlich trist-sowjetisch rote Leuchtreklame in kyrillischer Schrift, die den Kiosk anzeigte, in dem die Verkäuferin (Ida Härtling) trocken und historisch getreu verkündete: „Hammer nich!“ Und 4000 Scheine Falschgeld mussten hergestellt werden, um sie im Varieté übers Publikum regnen zu lassen (siehe Faust II). Liedtexte wurden selbst geschrieben (auf Russisch). Und und und …
Unsere Schule hat eine große Theatertradition. Wie wunderbar, dass sich diese, wie an all den beeindruckenden Klassenspielen in diesem Schuljahr abzulesen, nach dem Ausscheiden wichtiger Akteure fortsetzt. Anders, aber keineswegs schlechter. (Es geht also sogar ohne Handtaschen, nur die Schreibmaschine blieb!) Danke für euren Einsatz, liebe Schüler, liebe Lehrer, liebe mithelfende gute Geister. Es war uns ein Fest.
Christiane Gerber-El Mekraoui