Nun füllte sich die Bühne, sie füllte sich mit circa fünfundachtzig jungen Leuten, es erklang unter der Leitung von Jörn Rüter ein großes sinfonisches Werk, die Ouverture zu „Ruy Blas“ opus 95 von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Der dreißigjährige Mendelssohn hat es in wenigen Tagen geschrieben (es ist ein Auftragswerk des Leipziger Theaters als Entree zu einem Stück von Victor Hugo), ein gelungener Geniestreich! Ein dunkler, ernster, gewaltiger Bläserchor am Anfang, dann stürmische, jugendlich-drängende Streicherpassagen (beides wirklich virtuos und kompliziert, von den Schülern, besonders an den vorderen Pulten, bewundernswert bewältigt), dann ein lyrisches Seitenthema der Celli, von Bläsern unterstützt.
Bei diesem Stück zeigte sich zum ersten Mal die Besonderheit des Oberstufenorchesters, nämlich seine schiere Größe! Zum Beispiel saßen da nicht zwei Trompeter, wie in der Originalbesetzung vorgeschrieben, sondern sieben, nicht zwei Flöten, sondern fünf oder sechs, dazu etliche Saxophone, Klarinetten, Fagotte, Hörner, Posaunen. Natürlich gab es Pauken, drei Kontrabässe, dazu fünfzehn Celli. Der unverzichtbare Kontrabasspart wurde von der einzigen eigens engagierten Aushilfe gespielt, nebst zwei Mitgliedern des Kollegiums.
Der Klang hatte mitreißende Wucht und goldenen Glanz, was für ein Schülerorchester außerordentlich ist! Es folgte ein Cellosolo von Solvej Selzer mit Begleitung des Streichorchesters, eine große melodisch-dramatische Elegie von Max Bruch über eine jüdische Gebetsmelodie, das „Kol Nidrei“. Mit innigen, zarten Streicherklängen begonnen, erhob sich der Celloton daraus zu einem intensiven meditativen Gesang. Die Solistin beherrschte ihr Instrument fabelhaft.
Danach erschien der Geiger Kolja Bartsch auf der Bühne, sehr gespannt wirkend. Er begann sein Solo, den hochvirtuosen, langen ersten Satz aus dem Violinkonzert a-Moll op. 22 von Giovanni Battista Viotti, mit großem, kraftvollem Klang, und er bewältigte die schnellen Passagen mit verblüffender Leichtigkeit. In der großen Kadenz zeigte er, was für ein
staunenswertes Können er in den Doppelgriffpassagen hat und wie glanzvoll auch in den höchsten Lagen seine Tongebung ist. Angesichts dieses enormen Könnens verzieh das Publikum ihm kleine, dem Lampenfieber geschuldete Notentext-Hänger und applaudierte begeistert.
Eigentlich wäre das genug für einen Konzertabend, aber nach der Pause ging es weiter mit dem musikalischen „Hochamt“. Weder das Publikum (was sich am Buffet frisch stärken konnte) noch die Künstler waren müde, im Gegenteil. Am extra gestimmten Flügel erschien Golda Templeton und spielte ein hochromantisches und -virtuoses Stück, „Allegro appassionato“ op.70 von Camille Saint-Saëns. Spielerisch perlten die üppigen Klang-Kaskaden und Arpeggien dahin, deutlich war die Melodie herauszuhören,
die lyrischen Einsprengsel klangen innig und zart– das war schon meisterlich gespielt. Die Solistin erhielt frenetischen Applaus, dem sie bescheiden zu entfliehen trachtete, was Herr Zimowski verhindern konnte. Alle Solisten – die ja auch fast alle Stücke des Abends im Orchester mitspielten – erschienen übrigens in schlichtem, edlen Schwarz, niemand tat sich durch exaltierte Garderobe hervor, sehr angenehm.
Etwas weiter in die Moderne hinein wagte sich Lovis Jänicke mit dem ersten Satz aus dem Cellokonzert e-Moll von Edward Elgar. Der englische Komponist schrieb es 1919, nach dem Ende des ersten Weltkrieges, in bedrängter seelischer Lage, es ist sein letztes großes Werk.
Ein melancholisches, in weiten melodischen Bögen schwingendes und sich zu enormen Extasen aufbäumendes Stück, sehr fordernd nicht nur für den Solisten, der es mit großer Intensität und schönem Klang interpretierte, sondern auch für das Orchester.
Nach dieser ergreifenden Musik verschwanden zunächst die Streicher von der Bühne, das Publikum hatte jetzt einen unverstellten Blick auf eine wahre Phalanx von Bläsern, messingglänzend und silbern die Instrumente, darüber die vielen jugendlichen Gesichter. Herr Zimowski fixierte das Schlagzeug mit Klebeband (es war eine so gespannte Stille im Saal, dass das Geräusch des reißenden Bandes bis in die letzte Reihe zu hören war), und dann, one-
two-three-four, sprengte die Bigband in einem Frontalangriff unter seiner Leitung mit ganzer Lungenkraft die Stille mit „Born To Be Wild“ von Mars Bonfire in einem Bigband-Arrangement. Jonah Çetin steuerte ein angemessen wildes, improvisiertes, heftig beklatschtes Solo auf der Trompete bei, am Schlagzeug wechselten sich Ole Seifried und Joshua Schmidt ab, Letzterer spielte ein furioses Solo, ein wahres Trommelfell-Feuer. „Sweet Home Chicago“ von Robert Johnson wurde begleitet noch von anderen Perkussionisten und einem kraftvollen, markanten Synthesizer-Bass. Aber das war noch nicht das letzte Bigband-Stück. „September“ von Maurice White, Al McKay, Allee Willis folgte, leidenschaftlich und mitreißend gespielt. Nun erschienen die Streicher wieder, all die vielen. Es gab noch eine Rückkehr in die klassische Moderne, aus der Ballett-Suite „Romeo und Julia“ wurde „Mantagues & Capulets“ von Sergej Prokofjew gespielt. Kolja Zimowski inspirierte das ganze Ensemble noch einmal zu ungeheurer rhythmischer Wucht, zu strahlendem Klang, zu großer Klarheit.
Zu guter Letzt gab es noch einen „Rausschmeißer“, eine schwungvolle Rumba mit Beteiligung des Publikums. Vielleicht wollte sich „HerZi“, wie ihn die Schüler liebevoll und treffend nennen, mit dieser gemeinsamen Musik vom großen Auditorium der Schule verabschieden. Danach war das große Musikfest wirklich zu Ende. – Wie wird es im nächsten Schuljahr werden? Eine leise Bangigkeit ist da, begleitet von der großen Hoffnung, dass die
anstehenden Veränderungen vom Kollegium und den Schülern gemeistert werden können. Die Pläne dafür sind dank des Engagements großer Teile des Kollegiums längst im Werden.
Die Schüler bedankten sich bei Sonja Zimowski, Kolja Zimowski, Jörn Rüter und Nathalie Hauptmann. Unter den Mitwirkenden waren noch drei bis vier Lehrer- und Lehrerinnenköpfe auszumachen (bei den Kontrabässen, Bratschen, im tiefen Blech), die sich trotz des laufenden Unterrichtsbetriebes in ihren Klassen das Mitspielen nicht nehmen ließen.
Was haben wir für tolle Schüler (das ist ein Lehrerzimmer-O-Ton)! Aber auch: Was haben wir für eine über Jahrzehnte gewachsene musikalische Kultur, getragen von bescheidenen, herzlichen, überaus vielseitigen und hochengagierten Künstlern.
Christiane Gerber-El Mekraoui