Ich denke, dass für den Eurythmie-Abschluss die Musik sehr gut gewählt war, um den Schüler:innen einen angemessenen Abschluss ihrer zwölf Jahre Eurythmie-Erfahrung zu geben. Bei der „Bohemian Rhapsody“ von Queen zum Beispiel konnte ich sehen, wie die Wärme ihres Blutes mit den Melodien und Harmonien mitschwang und bis in ihre Fingerspitzen und Zehen drang. Es war unübersehbar, wie das Stück die Kraft hatte, die Begeisterung der Schüler:innen zu erwecken. Das zeigte sich auch darin, dass sie die Bewegung vorgreifen konnten. In der Eurythmie ist das Gute am Vorgreifen, dass sich die Luft um einen herum bewegt, was bedeutet, dass man die Luft um sich herum beherrscht. In „Bohemian Rhapsody“ wurde auch die Schönheit und Bedeutung der Gruppeneurythmie im Gegensatz zur solistischen Eurythmie deutlich. Es liegt eine künstlerische und spirituelle Schönheit in dem, was zwischen Menschen passiert, wenn sie sich in Gruppen bewegen.
Der Höhepunkt war die Schlussszene. Jeder stand an seinem Platz, schaute nach vorn und machte einen entschlossenen Schritt. In diesem gemeinsamen Impuls entstand ein einprägsames Bild davon, wie die Gruppe und der Einzelne auf die idealste Weise existieren können.
Wenn man sich in einer Kurve bewegt, braucht man einen starken Willen, und mit ihm kommen verschiedene menschliche Emotionen auf. Im aufrechten Stehen ist man mehr dem klaren Denken verbunden.
Sich mit dem Ich zu bewegen, das sich durch den ganzen Körper zieht, ein unabhängiger Mensch zu werden: leben, ohne herumgewirbelt zu werden, ohne manipuliert zu werden und bei sich selber zu bleiben, das ist Eurythmie. Die Tatsache, dass dies deutlich erlebt und gezeigt wird, ist ein großer Wert an sich.
Es gab auch beeinduckende Lauteurythmie. Die Gruppe der Männer hatte eine Energie, die sich nicht nur in den Gebärden ihrer Hände, sondern auch in der Bewegung ihres ganzen Körpers ausdrückte. Wenn sie sich bewegten, konnte man sehen, wie ihre überwältigende Präsenz und ihre dynamische Art den umliegenden Raum in Bewegung setzte. Die Gruppe der Frauen war sehr zart und ausdrucksstark, ihr Ich war bis in die Fingerspitzen hinein präsent. Überwältigend war die Art und Weise, wie sie sich mit einer anmutigen Würde bewegten, ohne eine Bewegung zu vergeuden, während sie im Kern ihres Körpers eine erstaunliche Ruhe behielten.
Zuhören.
Eines der Dinge, die Frau Rinck-Belskaya während der Proben immer wieder betonte, war die Bedeutung des “Zuhörens”. Eurythmie ist ein körperlicher Ausdruck. Eine berechtigte Frage wäre hier daher, was das Zuhören mit der Bewegungskunst Eurythmie zu tun hat. Zuhören bedeutet, seine Aufmerksamkeit auf den Raum zu richten. Frau Rinck-Belskaya wollte, dass die Schüler:innen, die nur mit ihren eigenen Bewegungen beschäftigt waren, ihre Aufmerksamkeit auf den Raum ausdehnten. Das ist eine unverzichtbare Grundlage für die Eurythmie, in der vergegenwärtigt wird, welche Wirkung die gesprochenen Worte und die erklingende Musik auf den Raum haben. Frau Rinck-Belskaya forderte die Schüler:innen auch manchmal auf, das Gefühl zu haben, ihre unsichtbaren Hände in den Raum auszustrecken und sich ohne Handgebärden durch die Formen zu bewegen. Denn bevor die Hand tatsächlich dorthin gelangen kann, muss zuerst auch das Bewusstsein an diesem Ort vorhanden sein.
Diese Bedeutung der Ausrichtung der Hände spielte in der letzten Szene des „Zeitenklangs“ (Musikstück von Herrn Zimowski) eine zentrale Rolle. Das Anliegen Frau Ring-Belskayas, dass die Schüler:innen ihre Aufmerksamkeit stärker auf ihre Fingerspitzen lenken sollten, kam in der Aufführung auf verblüffende Art und Weise zum Tragen. Allein dadurch, dass die Schüler:innen ihre Aufmerksamkeit dorthin lenkten, veränderten sie sich und der Raum um sie herum radikal. Frau Rinck-Belskaya regte die Schüler:innen in den Proben dazu an, auch den Tonraum hinter sich zu hören. Die Schüler:innen, denen immer wieder geraten wurde dies zu tun, veränderten in den letzten zwei Tagen ihre Stehhaltung drastisch. Sie sahen auf der Bühne viel größer aus, als sie tatsächlich waren. Ihre Präsenz nahm zu. Durch das ‘Zuhören’. Einer der einprägsamsten Momente des Probens war, als die Schülerinnen und Schüler, dicht bei den Musikern stehend, ihnen aber den Rücken zuwendend, Schostakowitschs Musik erleben durften. In der Eurythmie geht es beim Zuhören auch um ein Empfinden für den hinteren Raum und das Hören auf das eigene Innere, was mir noch einmal bewusst wurde, als ich die Bewegung der Jugendlichen beobachtete.
Die zwei Charaktereigenschaften der Sekunde
Das Programm war dieses Mal sehr interessant und ich könnte viel darüber schreiben, aber was besonders auffällig war, waren die zwei verschiedenen Ausprägungen des Intervalls der Sekunde, die sowohl in dem Stück von Schostakowitsch (2. Satz aus dem Streichquartett Nr. 8) als auch in dem Stück „Zeitenklang“ von Kolja Zimowski vertreten waren. Schostakowitschs Streichquartett Nr. 8 wurde als eine Art Abschiedsbrief komponiert, da er aufgrund des Drucks des damaligen Regimes unfreiwillig Mitglied der Kommunistischen Partei wurde und das Gefühl hatte, einen geistigen Tod zu sterben. Er bat sogar darum, dass dieses Stück bei seiner eigenen Beerdigung gespielt würde. Berühmt ist, dass das Thema des Stücks ein Wiedererkennungsmerkmal des Komponisten wurde, welches die Sekunden -Intervallabfolge D, Es, C, H, endlos wiederholt. Es ist ein fast bedrückender Klang. In dem Stück finden sich sehr viele Halbtonschritte. Sie scheinen sich endlos zu wiederholen. Die Intervalle der Sekunden stehen in einer komplementären Beziehung zu den Septimen, die ebenfalls im Stück zu finden sind. Zusammen erzeugen sie einen beunruhigenden Klang.
Schostakowitschs Sekunden sind hier eng, schmerzhaft, mühsam. Aussichtslosigkeit und Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Diese bereits durch die Sekunden entstehende bedrückende Stimmung wird durch die Wirkung der hinzukommenden Septimen noch weiter gesteigert. Die neben den Sekunden unausweichlich auftretenden Septimen wirken zermürbend und beunruhigend. Beim Erklingen der Septimen bleibt dem Zuhörer nichts mehr, was ihn vor der erdrückenden Stimmung schützen könnte. Das Selbst ist verloren, der Hörende bleibt in schutzloser Nacktheit zurück. All das ist nicht auf Schostakowitschs persönliche geistige Situation beschränkt. Es ist eine geistige Krise, die wir alle erleben in der heutigen Zeit. Und die 12-Klässler, deren Persönlichkeit sichtbar wird und die angefangen haben, als Mensch zu stehen, stehen in dieser geistigen Krise. Ohne durch sie hindurchzugehen, können wir die Wahrheit nicht erreichen.
Kolja Zimowski hat das Stück „Zeitenklang“ für Doppelquartett, Kontrabass und Solo-Horn in seinem letzten Jahr als Lehrer komponiert. Er erzählte mir, dass er beim Komponieren immer daran denkt, wer dieses Stück spielen wird. Das ist der Auslöser für seine Inspiration.
Das Stück beginnt mit einem Hornsolo. Während des Hornsolos, als ein Eurythmist auf die Bühne kam, konnte man erleben, wie sich sein Bewusstsein in jeden Winkel der Bühne ausbreitete. Er ließ sich vom Klang des Blasinstrumentes in die Weite des Raumes tragen. Es war wunderbar. Als nächstes in dem Stück „Zeitenklang“ kommen die Streicher. Es fühlte sich überwältigend an wie etwas, das eng mit dem menschlichen Körper und den Gefühlen verbunden ist. Es fühlte sich sehr irdisch an. Der Klang von neun Saiteninstrumenten – zwei Quartette und ein Kontrabass – vermittelte ein Bild von Schichten menschlicher Emotionen, wie ein einziger schöner Stoff, der zusammengewebt wird. Es war sehr wirkungsvoll, um das Leben eines Menschen darzustellen der einsam sein kann, sich dann wieder annähert, dann wieder innehält und nachdenkt, dann wieder die Anwesenheit des anderen um jeden Preis braucht usw. Der Klang des Blasinstrumentes, der dort immer wieder ertönte, erschien sogar wie eine Offenbarung des Himmels.
In den Sekunden-Intervallen, die Kolja Zimowski verwendet, ist also kein Gefühl von Bitterkeit oder erzwungener Unbequemlichkeit zu spüren. Es scheint als könne man durch die Sekunden die Qualität eines Momentes spüren, in dem sich der Weg in die Zukunft öffnet – eine Stimmung des Aufbruchs. Der Ton F und der Ton Gis werden sehr wirkungsvoll eingesetzt, wobei der Klang des D wie ein Teppich als Bassnote klingt. Das Gis ist wie eine Pflanzenknospe, die sich gerade öffnet und sich nach oben richtet. Es gibt ein Gefühl der Hoffnung.
Der letzte Teil, in dem die Menschen in etwas verwickelt zu sein scheinen, aber versuchen zu erkennen, was es ist, endet mit E. Die eurythmische Gebärde von E ist die gleiche wie die Form von A, offen nach außen und innen, wie eine offene Frage. Das Intervall der Sekunde im Morgengrauen. Und es ist auch das “Jetzt” der Schüler der Klasse 12.
Hiroko Krawehl