Der Anfang
Emil Molt und Rudolf Steiner gründeten 1919 gemeinsam die erste Waldorfschule zunächst für die Kinder der Betriebsangehörigen von Emil Molts Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik in Stuttgart.
Die “Freie Goethe-Schule” wurde 1922 in Wandsbek eröffnet. Sie ist die zweitälteste heute bestehende Waldorfschule.
Die Freie Goethe-Schule von der Gründung bis zum Ende der Weimarer Republik (1922 bis 1933)
Der Ingenieur und Bauunternehmer Hans Pohlmann und seine Frau Emilie baten Rudolf Steiner 1921, er möge der Gründung einer Waldorfschule in Hamburg zustimmen. Als Hans Pohlmann bereit war, für Grundstück, Räume und auch für die Lehrergehälter zu garantieren, stimmte Rudolf Steiner schließlich der Gründung der “Freien Goethe-Schule” 1922 in der preußischen Stadt Wandsbek, östlich von Hamburg, zu. Er gewann Dr. Max Kändler, Schulrat aus Thüringen, für die Leitung der Schule. Dr. Max Kändler und seine eben siebzehnjährige Tochter Ilse begannen in der geräumigen Villa von Hans Pohlmann, Jüthornstraße 4a, mit neun Kindern am 22.Mai 1922 mit dem Unterricht.
Im Jahr darauf schickte Rudolf Steiner einen jungen Lehrer aus Jena: Heinz Müller hatte das Lehrerexamen abgelegt und gab die in Aussicht genommene Hochschullaufbahn auf, als er von Rudolf Steiner den Auftrag erhielt, in die Schule in Wandsbek einzutreten.
Die Schülerzahl nahm zunächst nur stockend, nach der Ausräumung von Vorurteilen, die im Hamburger Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft kursierten, dann rasch zu. Im März 1924 erwarb Hans Pohlmann ein Gelände von 5000qm an der Bleicherstraße, auf dem er bereits 1925 das neue Schulgebäude errichten und fertigstellen ließ. Es enthielt zehn Klassen- und einige Fachräume sowie einen Saal mit etwa 400 Plätzen.
1928 und 1929/30 wurden Erweiterungsbauten, der Wandsebau mit weiteren Klassenräumen, einer Turnhalle, Fachräumen und Schulküche angefügt. 1930 unterrichteten 17 Lehrkräfte 430 Kinder an der Schule.
Im Jahre 1931 wurde, aus der Freien Goethe-Schule heraus, die Altonaer Rudolf Steiner Schule gegründet.
Die Freie Goethe-Schule in der Zeit des Nationalsozialismus (1933 bis 1940)
Mit zunehmender Einflussnahme der nationalsozialistischen Regierung auf alle Bereiche des Lebens in Deutschland wurde 1935 die Anthroposophische Gesellschaft verboten und aufgelöst. Wurden heimliche Versammlungen ehemaliger Mitglieder denunziert, dann führte die Entdeckung, wenn das Gerichtsverfahren glücklich ausging, ins Gefängnis.
Den meisten Privatschulen wurde 1936 verboten, neue Schüler aufzunehmen. Dies betraf vor allem die Waldorfschulen. Denn die Berichte der nationalsozialistischen Schulaufsichtsbeamten stellten zwar zumeist befriedigende fachliche Leistungen der Schüler fest, bemängelten aber:
“Der Unterzeichnete hat nach dem allen den Eindruck gewonnen, daß die Freie Goethe-Schule in Wandsbek vom nationalsozialistischen Geiste unberührt geblieben ist!”
gez. Viernow
Besichtigungsbericht der NS-Behörden
Allen im öffentichen Dienst stehenden Personen wurde nach dem Tode Hindenburgs auferlegt, den Eid auf Hitler persönlich, statt auf die Verfassung abzulegen. Um dies zu vermeiden, beendete die Schule in Altona 1938 ihre Tätigkeit durch Auflösung.
Die Lehrer der “Freien Goethe-Schule” leisteten den geforderten Eid. Und so konnte eine größere Zahl von Schülern aus Altona den Unterricht in Wandsbek fortsetzen, wenn der dafür erforderliche Antrag der Eltern von der Schulaufsichtsbehörde genehmigt wurde.
Die Waldorfschule Dresden und die “Freie Goethe-Schule”, waren 1939 von Verbot und Schließung aller Waldorfschulen ausgenommen worden. Beide sollten auf Betreiben des Amtes Hess als Versuchsschulen weitergeführt werden. Und beiden wurde Anfang April 1939 mitgeteilt, die Aufnahmesperre sei für sie aufgehoben, es dürften wieder neue Schüler und Erste-Klassen aufgenommen werden.
Mit dem Überfall auf Polen, Anfang September 1939, ließ dann Heinrich Himmler durch die Geheime Staatspolizei alle Lehrkräfte der Freien Goethe-Schule zum kriegsbedingten Einsatz für Verwaltungsaugaben, zum Beispiel bei der Lebensmittel-Karten und Bezugscheinausgabe, versetzen.
Am Ende der Sommerferien standen die Schüler vor verschlossenen Schultüren. Oberschulen in Hamburg durften Schüler der Freien Goethe-Schule nicht aufnehmen. In Schleswig-Holstein und Niedersachsen konnten viele Schüler der Freien Goethe-Schule ihren Bildungsgang an Oberschulen fortsetzen. Auch gingen einige wenige an die Waldorfschule in Dresden, soweit die Eltern dieses ermöglichen konnten.
Ein Ende der Regierung der Nationalsozialistischen Regierung war nach den raschen Niederlagen Polens und Frankreichs nicht abzusehen. Ohne den Schulbetrieb waren Grundstück und Gebäude nicht zu halten, und Hans Pohlmann sah sich zum Verkauf an die Stadt Hamburg gezwungen. Offiziell beendete die Freie Goethe-Schule ihre Tätigkeit zu Ostern 1940 durch Selbstauflösung. Dem ging weder Verbot noch Schließung durch eine Behörde voraus.
Die Schließung der Freien Goethe-Schule Wandsbek, Ostern 1940
Aus: Uwe Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, Oldenbourg Verlag, München 1999, S. 228- 230,
mit freundlicher Genehmigung des Oldenbourg Verlages
Bei der Wandsbeker Schule nahm der Weg zur Schließung einen etwas anderen Verlauf. Zunächst wurde die Schule gar nicht über die am 14. April 1938 entschiedene Aufhebung der Aufnahmesperre informiert. Während die Dresdner Schule Bescheid bekam und wieder Schüler aufnahm, blieb das Wandsbeker Kollegium weiter im Ungewissen. Die Erklärung dafür findet sich in den Akten des Erziehungsministeriums: Die Hamburger Schulverwaltung, unterstützt vom dortigen Reichsstadthalter, verlangte weiter die Schließung der Schule, um deren Räumlichkeiten selbst zu nutzen, und weigerte sich, die Schule von der Aufhebung der Sperre zu unterrichten.
Im Herbst übernahm Ministerialdirektor Hohlfelder im Reichserziehungsministerium die sachliche Zuständigkeit für diese Fragen. Als er sich im Herbst 1938 in diese Materie neu einarbeitete, entwickelte er durch Elisabeth Klein Interesse für die Waldorfschule. Rust schickte ihn nach Wandsbek. Die dortige Schulverwaltung mußte nachgeben.122 Rust forderte sie auf, “diejenigen Lehrkräfte namhaft zu machen, die nach nationalsozialistischen Grundsätzen für die Weiterbeschäftigung in dieser Schule in Frage kommen.”123 Im Frühjahr 1939 endlich wurde die Schule über die Beendigung der Aufnahmesperre informiert.124 Die weiteren Vorgänge, die notgedrungen zur Selbstschließung führen mußten, wurden den Freunden der Schule kurz vor der unvermeidlich gewordenen Schließung im März 1940 mitgeteilt.
“… Wie bekannt, erhielt die Leitung der Freien Goethe-Schule am 29. September 1939 einen Brief der Landesunterrichtsbehörde, der uns unter Überschrift “Schließung der Schule” mitteilte, der Herr Reichsminister habe entschieden, dass alle privaten allgemeinbildenden Schulen am 30.9.39 ihre Pforten schließen. Am 7. Oktober 1939 wurde uns von der Schulverwaltung mitgeteilt, daß das Schreiben vom 28.9.39 gegenstandslos geworden sei und hierdurch ausdrücklich zurückgenommen werde. Auf Grund der Einberufung aller Lehrer zum Hilfsdienst im Haupternährungsamt sei die Schule jedoch praktisch geschlossen. Umdeswillen werde die Schulverwaltung die Einschulung der schulpflichtigen Kinder in die öffentlichen Schulen veranlassen. Dieses geschah dann am 13. Oktober 1939. Seitdem haben wir uns die erdenklichste Mühe gegeben, zumal der Hilfsdienst am 24. November endete; die Situation zu klären und eine Entscheidung über das Schicksal der Schule, dessen grundsätzliche Regelung erneut Gegenstand einer Prüfung im Ministerium geworden ist, herbeizuführen. Es ist uns bis heute nicht gelungen. … Wir legen unsere Arbeit nieder in dem Bewußtsein, daß wir alles getan haben, was in unseren Kräften stand, um Ihren Kindern die Schule, und was in ihr gewirkt werden konnte, zu erhalten… 125
Diese Einzelheiten verdeutlichen, wie die Hamburger Schulbehörden durch Schikanen die Schule zur Auflösung trieben. Man muß dazu wissen, daß die Vorschriften für den Arbeitsdienst selbstverständlich nicht vorsahen, daß alle Mitarbeiter eines Betriebes eingezogen werden sollten. Letztlich zeigte sich, daß die Aktion vermutlich von Himmler veranlaßt worden war: “Die Einstellung der Betriebes der Freien Goethe-Schule wurde jedoch dadurch herbeigeführt, daß alle Lehrer der Schule auf Veranlassung der Reichsführers SS beim Ernährungsdienst dienstverpflichtet wurden…” 126
Der Kriegsausbruch hatte also für die beiden übriggebliebenen Waldorfschulen unterschiedliche Auswirkungen.: Während die Hamburger Behörden die Schule über den Arbeitsdienst ihrer Lehrer beraubte und zur Schließung trieben, vermieden die sächsischen Behörden die Ausarbeitung des fragwürdigen und hinderlichen Konzepts einer Versuchsschule und sicherten damit – ungewollt – der Dresdner Rudolf Steiner Schule bis zur Gestapo-Aktion im Juni 1941 eine relativ ungestörte Arbeit im inneren Schulbetrieb.